Durch die neuere soziologischen Systemtheorie besteht die Möglichkeit, Bewegungen von Finanzmärkten aus einer völlig anderen theoretischen Perspektive zu betrachten. Allerdings muss zunächst die Ausgangslage geklärt werden: Kann ein Finanzmarkt ein System sein? Denn wäre er ein System, könnten daraus höchst interessante Erklärungen abgeleitet werden, Börsenbewegungen zu beschreiben.
Dieser Aufsatz spiegelt meine aktuellen Gedanken zu einer Frage wider, ob der ein Finanzmarkt ein soziales System sein kann? Dabei geht es mir weniger um die Theorie, sondern vielmehr um die Anwendung. Warum steigen Kurse und warum fallen sie? Es geht um Systemtheorie. Interessant ist der Artikel daher eher für Systemtheoretiker und Leser, die an neuen Ideen über die Börse interessiert sind. |
Systemtheorie
Systemtheorie? System? Was bedeutet das? Der bekannteste Vertreter der neueren soziologischen Systemtheorie ist Niklas Luhmann. Bei Luhmann geht es um soziale Systeme wie beispielsweise eine Gesellschaft, die Wirtschaft oder das Gespräch zweier Menschen. Leider hat er sich zum Finanzmarkt, der Börse und Wertpapieren nur wenig geäußert.
Nach Luhmann beginnt jede moderne Systemtheorie mit der Differenz von System und Umwelt [1]. 'Differenz', das meint 'Unterscheidung', was bedeutet, dass ein System immer nur im Zusammenhang mit seiner Umwelt betrachtet werden kann. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Man kann einen Vogel nicht ohne die Luft betrachten. Beides gehört zusammen. Zugleich aber existiert der Vogel nach eigenen inneren Regeln und besitzt eine eigene innere Struktur.

Was dafür spricht, dass ein Finanzmarkt ein System ist
In der Tat passen einige Annahmen der Systemtheorie sehr gut zu Beobachtungen von Finanzmärkten. Was spricht also dafür, dass ein Finanzmarkt ein System ist?

Was dagegen spricht, dass ein Finanzmarkt ein System ist
Fragen und Thesen
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Wie kommt Luhmann auf dieses - wie ich finde - ungewöhnliche 'interne Umwelt'? Ist das ein Hilfskonstrukt?
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Wenn der Markt eine (interne) Umwelt ist, stellt sich doch die Frage: Was ist das System? Denn wie oben erwähnt beginnt jede moderne Systemtheorie mit der Differenz von System und Umwelt.
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Was ist bei Luhmann eigentlich der Markt? Was ist gemeint? Meint er nur den finalen Tausch eines Handels, ausgedrückt in Preisen? Aber was ist mit den Ereignissen, die vor dem Tausch geschehen? Bevor ein Kauf stattfindet, machen sich Menschen viele Gedanken und kommunizieren miteinander.
Wie oben beschrieben hat ein Finanzmarkt unterschiedlichste Marktteilnehmer: Investoren, Investmentfonds, Investmentbanken, private Anleger, private Trader und Händler. Sogar computergesteuerte Handelssysteme könnte man als Marktteilnehmer bezeichnen. Nicht zuletzt verbreiten Massenmedien Ihre Nachrichten unter Lesern und Zuschauern. Sie alle kommunizieren miteinander. Das spricht dafür bei einem Finanzmarkt von einem sozialen System auszugehen.
Wo ist bei einer Vielzahl an Marktteilnehmern die Grenze zu ziehen? Sind ihre psychischen Systeme Teil eines Wirtschaftssystems? Ein Subsystem im Wirtschaftssystem? Oder sind sie Umwelten? Für Baecker, Schüler von Luhmann, können Banken ein System sein [10]. Demnach würden Systeme mit verschiedenen Marktteilnehmern existieren. Aber fasst man alle Marktteilnehmer zusammen, sind Sie dann nicht zusammen Teil des System Finanzmarkt? Ich denke schon.
Auch zum Geldmarkt hat sich Luhmann - ich denke, er meint Finanzmarkt - geäußert:
Die Operationen dieses Marktes sind also im Höchstmaße selbstreferenziell bestimmt. Ein Argument dafür, dass der Finanzmarkt ein System ist. Zwar gibt es Trader, die sich nur an Chartformationen orientieren (selbstreferenziell?), aber die Mehrzahl der Akteure nutzt meines Wissens Anhaltspunkte aus der Umwelt: Zinsentscheidungen, Nachrichten aus und über Unternehmen, Konjunkturzahlen u.v.m.
Darüber hinaus sollte man die Bedürfnisse an Finanzmärkten nicht unterschätzen. Erwartungen, Profitgier und Sicherheit sind treibende Kräfte an den Finanzmärkten. Entgegen Luhmann möchte ich behaupten: Es existiert ein Variationszusammenhang. Dieser ist nur schwer zu erkennen, da unzählige Marktteilnehmer mit mindestens ebenso vielen Erwartungen den Zusammenhang kurz- und mittelfristig verschleiern und den Markt zu einem überaus dynamischen Gebilde machen.
Diskussion
Der Finanzmarkt kann nicht das gesamte Wirtschaftssystem sein. Dafür ist er viel zu speziell. Wenn, dann ist er ein Teilsystem des Wirtschaftssystems, denn die eigentliche Funktion des Finanzmarktes ist es, Zahlungen von Unternehmen zu ermöglichen. Ein System Finanzmarkt könnte aber auch neben dem Wirtschaftssystem stehen (und kein Teilsystem), denn die gleiche Nachricht (bspw. gute Konjunkturdaten) wird von Börse und Wirtschaft häufig völlig unterschiedlich wahrgenommen, beschreiben, interpretiert und bewertet.
Möglicherweise fehlt einem Finanzmarkt der notwendige Organisationsgrad (vgl. Simon, 2006)[12], weil Kursbewegungen zufällig zustande kommen. Aber an dieser Frage scheiden sich gerade die Geister. Die einen behaupten, Kursbewegungen kommen zufällig zustande (bspw. Random Walk Theory nach Louis Bachelier, 1900), andere erkennen wiederkehrende Muster, systematisch auftretenden Verzerrungen (Kahneman, 2011) und überzufällige Ausschläge der Kurse wie zum Beispiel Schwarze Schwäne (Taleb, 2001). Dies könnte für einen hohen Organisationsgrad sprechen.
Entscheidend scheint mir der Gedanken zu sein, dass Finanzmarktbewegungen durch Kommunikation entstehen. An der Börse wird permanent kommuniziert: über den Preis, aber auch durch den Preis. Ist nicht der Preis aus Angebot und Nachfrage eine Form der Kommunikation? Systeme bestehen aus Kommunikation. Also sollte auch ein Finanzmarkt ein System sein (!?) ... Fortsetzung folgt.
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Literatur
[1] Niklas Luhmann, Beobachter im Krähennest, Thomas Strauch, WDR 1989, https://youtu.be/qRSCKSPMuDc, Zugriff 16.11.2018
[2] https://finanznachrichten.de, 15.11.2018, 16.11.2018
[3] Fritz B. Simon (2009), Einführung in die Systemtheorie und Konstruktivismus, S. 12
[4] Fritz B. Simon (2009), Einführung in die Systemtheorie und Konstruktivismus, S. 15
[5] Niklas Luhmann (1984), Die Wirtschaft der Gesellschaft als autopoietisches System, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 13, Heft 4, Oktober 1984, S. 308-327, F. Enke Verlag Stuttgart
[6] Andre Kostolany (1986), Kostolanys Börsenseminar
[7] Luhmann Wiki, FANDOM: Operative Geschlossenheit, http://de.luhmann.wikia.com/wiki/Operative_Geschlossenheit, Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Zugriff 16.11.2018
[8] Niklas Luhmann (1994), Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 94, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
[9] Niklas Luhmann (1994), Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 115, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
[10] Dirk Baecker (1991), Womit handeln Banken? Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
[11] Niklas Luhmann (1994), Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 115, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
[12] Fritz B. Simon (2006) Einführung in die Systemtheorie und Konstruktivismus, S. 32
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