Rationalität und Irrationalität

Um dem Begriff der Irrationalität näherzukommen, hilft die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Rationalität. Aber allein das Verständnis einer Bedeutung befreit uns nicht davon, Rationalität ständig zu hinterfragen. Auch um das Konzept der kognitiven Verzerrungen zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit dem Konzept der Rationalität auseinanderzusetzen.

 

Irrational - ein Begriff mit zwei Botschaften

Der Bedeutung des Begriffs 'irrational' auf die Spur zu kommen, ist ein nahezu unendliches Unterfangen, da jede Erkenntnis zu weiteren Fragen und Widersprüchen führt. Daher kann dieser Artikel weder umfassend noch abschließend sein. Luhmann fragte gar: Ist es überhaupt rational, sich rational zu verhalten?1

Die Definition nach dem Duden lautet:

mit dem Verstand nicht fassbar   und 

vernunftwidrig

Hier offenbart sich bereits die Doppeldeutigkeit der Definition. Wenn etwas mit dem Verstand nicht zu erfassen ist, ist eine rein sachliche Feststellung, die besagt, dass eine Entscheidung oder eine Handlung sehr wohl erfassbar ist, jedoch nur nicht mit dem Verstand. Das muss nicht falsch sein, denn wir treffen täglich viele Entscheidungen intuitiv, aufgrund von Gefühlen oder Heuristiken - und trotzdem (oder gerade deswegen) - sind sie richtig.

Zugleich ist der Begriff 'irrational' negativ besetzt. Als das Gegenteil von rational ist irrational alles das, was einfältig, unlogisch und unvernünftig ist. Eine Entscheidung, ein Verhalten oder gar ein Gefühl als irrational zu bezeichnen ist eine abwertende Bewertung, die eine konstruktive Kommunikation grundsätzlich erschwert. Nebenbei ist es verwirrend, einen Begriff zu verwenden, der zugleich Beschreibung und Bewertung ist. Dies macht Kommunikation unnötig komplex.

Allerdings sind manche Aussagen rational betrachtet einfach falsch. Wahrscheinlichkeit und Mathematik sind in sich logisch. Wer behauptet, dass 17 + 4 = 20 ist, ist entweder ein Scharlatan oder handelt irrational.

17+4=21

Kognitive Verzerrungen

Viele kognitive Verzerrungen (Biasses) basieren darauf, dass sie der Logik und den Regeln der Wahrscheinlichkeit widersprechen. Sie sind definiert als systematische Abweichung vom rationalen Verhalten2. Hierzu zwei Beispiele:

Verfügbarkeitsheutistik: Wenn Menschen danach gefragt werden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis ist - und sie wissen es nicht genau - dann wird ihre Antwort davon bestimmt, was ihnen gerade in den Sinn kommt.

Kausalitätsillusion: Menschen verwechseln gerne Korrelation mit Kausalität. Treten zwei Ereignisse gleichzeitig auf, so gehen wir schnell davon aus, dass zwischen Ihnen eine Ursache-Wirkungs-Beziehung besteht. Das menschliche Gehirn sucht immer verzweifelt nach Ursachen von Ereignissen. Michotte spricht von Kausalitätsillusion, welche dadurch zustande kommt, dass'wir Kausalitäten genauso erkennen, wie wir Farben erfassen3. Börsennachrichten strotzen nur so von 'Kausalitäten', die eher Vermutungen als eindeutige Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind. Hier zwei Beispiele: 'Die erfreulichen Arbeitsmarktdaten sorgten für Erleichterung an den Börsen' oder 'der Dow Jones zieht den Dax mit in den Keller'.

In beiden Fällen widersprechen sich hier 'menschliches' und rationales Verhalten.

 

Subjektive und objektive Irrationalität

Um diese Widersprüche zu erklären, hilft vielleicht ein Blick auf den Begriff der Rationalität, den Wissenschaftler schon vielfach diskutiert haben. So hat sich neben vielen anderen Herbert Simon 1945 geäußert, indem er zwischen subjektiver und objektiver Rationalität unterschieden hat4.

Mit subjektiver Rationalität ist gemeint, wenn 'Rationalität in Bezug auf das aktuelle Wissen einer handelnden Person maximalisiert wird'. Von objektiver Rationalität spricht er hingegen, wenn die 'Rationalität tatsächlich das richtige Verhalten zur Maximierung gegebener Werte in einer gegebenen Situation ist'.

Rationalität einer handelnden PersonRationalität in Bezug auf gegebene Werte

In diesem Sinne wäre es auch möglich, den Begriff der Irrationalität zu unterscheiden:

Verletzung eigener AbsichtenVerstoß gegen offensichtlich rationale Regeln

Objektive Irrationalität

Objektiv irrational ist ein Verhalten dann, wenn Menschen gegen offensichtlich rationale Regeln verstoßen: Über eine viel befahrene Straße gehen, ohne nach links und rechts zu schauen, sich nicht vor Virusinfektionen zu schützen, weil man der Meinung ist, dass ein gesundes Immunsystem einen Virus alleine besiegen kann oder Kaffee mit Zucker zu trinken, obwohl der Blutzuckerspiegel ausgesprochen noch ist.

Subjektiven Irrationalität

Aber ist das subjektiv gesehen wirklich irrational? Wenn ein Mensch bewusst den Genuss über die Gesundheit stellt, ist das subjektiv gesehen rational. Subjektiv irrational wäre ein Verhalten allerdings, wenn eigene Werte und Absichten verletzt werden - sofern sie einem bewusst sind (Wissen, dass Zucker bei hohem Bluthochdruck gefährlich ist). Einfach ausgedrückt: man hält sich nicht an das, was man sich vorgenommen hat, beispielsweise weniger zu essen oder öfter Sport zu treiben.

 

Möglichst nah an der objektiven Rationalität sein

Das Ziel sollte es sein, sich mit der eigenen subjektiven Rationalität möglichst nah an einer objektiven Rationalität zu orientieren. Das ist einfacher als gesagt als getan.

Zur objektiven Irrationalität

Weber & Schäffer, Experten für Controlling, schreiben: 'Wir wollen im Folgenden Rationalität als herrschende Meinung von Fachleuten hinsichtlich einer bestimmten Zweck-Mittel-Relation verstehen. Damit eine solche vorliegt, müssen insbesondere zwei Bedingungen gelten: Die Fachleute werden von anderen Fachleuten als solche anerkannt'.5

Aber ist das schon objektiv rational? Auch Fachleute irren und manchmal handeln gerade sie irrational. Vergleiche ich Prognosen der konjunkturellen Herbstgutachten mit den tatsächlichen Konjunkturdaten (BIP), so klaffen Prognose und Realität in den meisten Fällen weit auseinander.6

Wirecard musste zugeben, dass ausgewiesene Bankguthaben in Höhe knapp 2 Milliarden Euro höchstwahrscheinlich nie existiert haben.7 Sowohl die Experten der Finanzaufsicht Bafin und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY hielten das Vorgehen von Wirecard bis zum Bekanntwerden der Manipulationen vermutlich für korrekt und rational.8 Was also Aufsichts- und Prüfungsexperten für rational halten, muss noch lange nicht objektiv rational sein.

Vermeintlich objektiv rationales Wissen muss also ständig überprüft und ggf. korrigiert werden. Wenn wir Rationalität, die für objektiv gehalten wird, nicht infrage stellen, handeln wir irrational.

Zur subjektiven Irrationalität

Subjektive Rationalität orientiert sich an Zielen und Werten. Entscheidungen und Verhalten können nur irrational sein, wenn sie den eigenen bewussten Zielen widersprechen. Handelt ein Mensch jedoch unbewusst gegen eigene Werte und Ziele (zum Beispiel, weil die Ziele anderer Menschen für eigene Ziele gehalten werden), wäre subjektive Irrationalität eine unpassende Verurteilung, die einer 'begrenzten Rationalität' (Herbert Simon) von uns Menschen nicht gerecht wird.

Allerdings befreit uns auch das nicht davon, sich immer selbst zu hinterfragen, ob eigene Entscheidungen und Handlungen zumindest der eigenen subjektiven Rationalität entsprechen. Das heißt, fragen Sie sich immer wieder: Ist das, was ich tue, auch wirklich das, was ich tun wollte.

Literaturangaben
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1 Luhmann, Risiko und Gefahr, entnommen aus Wahren (2009), Anlegerpsychologie
2 Taleb (2013), Narren des Zufalls
3 Michotte (1987); entnommen aus Kahneman (2011), Schnelles Denken, langsames Denken
4 Simon, Herbert (1981), Entscheidungsverhalten in Organisationen
   Genau genommen hat Simon vorgeschlagen, Rationalität mehrfach zu unterscheiden:
   objektiv, subjektiv, bewusst, absichtlich, organisatorisch und persönlich.
5 Weber & Schäffer (2014), Einführung in des Controlling, Kaptiel: Behavioral Controlling
6 Statista, Prognose versus Wirklichkeit, Link: de.statista.com/infografik/...
7 Wikipedia, Unternehmenszusammenbrüche Link: de.wikipedia.org/wiki/Liste_von ...
8 NZZ, Wirecard-Artikel, Link: www.nzz.ch/wirtschaft/wirecard ...
 

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